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26.01.2009 - 3.04.2010 Immanuel Kraus - "au premier coup"
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Aus einer rechteckigen Grundmasse entwickelt sich ein organischer Körper, er strebt aus der geometrischen Setzung, zieht die Materie an sich. Es formen sich Bauch und Brustkorb, Rücken und Nacken, Hals und ein Kopf, der nach vorne drängt, sich erheben möchte. Aus den Schultern generieren sich Arme, doch sie sind nicht vollendet, befinden sich noch im Prozeß der Formung. Die Skulptur endet hier räumlich, sie erinnert an einen Torso mit Haupt. Im Unterschied zum Torso fehlen die Arme nicht gänzlich, in dem angedeuteten ersten Schritt ihrer Formwerdung spielt der Bildhauer mit dem Non-finito, dem unvollendeten, Fragment gebliebenen, Kunstwerk, das der Betrachter, wie auch der Künstler mit Hilfe seiner Imagination selbst vollendet. Sind es Arme, die sich aus dem Torso herausformen? Die Aufwärtsbewegung des Körpers, die strebende Bewegung des Kopfes lassen die Assoziation einer gänzlichen Befreiung der körperlichen Form von der schweren Bodenmasse zu. Der nach oben strebende Körper scheint nicht nur zu wachsen, sondern in ihm ist die Absicht der absoluten Loslösung erkennbar. Es ist der erste Flügelschlag, der sich andeutet, der aber erst durch unsere Imagination zum Flügelschlag wird.
Die beschriebene Skulptur tägt den Namen „Fly Myself“ und wurde von Immanuel Kraus geschaffen. In ihr zeigt sich die spannungsvolle Eigenschaft des Bronzeguss, den Moment weicher plastischer Formung in der festen Materie des Metalls einfangen zu können. Dem Künstler Immanuel Kraus gelingt es die formale Ambivalenz zwischen der Leichtigkeit des Plastischen und der Schwere des Metalls inhaltlich zu verdichten.
Es geht ihm um die Befreiung aus der festen Form, um die Loslösung von materiellen Bedingungen. Wir wissen, daß kein Mensch ohne technische Hilfsmittel fliegen kann, und doch scheint die Möglichkeit dieser Figur inne zu wohnen, da sie sich in dem freien Raum der Kunst generiert und mit Hilfe der Vorstellungskraft des Betrachters loslösen kann. Ein Kunstwerk, das sich in seiner Materialität selbst auflösen möchte? Was bleibt ist die bronzene Materialität der Skulptur und die Erinnerung an den Gedanken, sie überwinden zu können mit den Möglichkeiten unserer geistigen Vorstellung. Wie aber gelingt es Immanuel Kraus die inhaltliche Assoziation über die Form im Betrachter zu wecken? Wie schon erwähnt findet sich ein Grund in der figuralen Fragmentierung und plastischen Prozeßhaftigkeit des Gesehenen. Es sind aber auch die Prinzipien der Raumschließung und -öffnung, welche den kleinen Skulpturen einen größeren Eingriff in den Raum und in die Imagination des Betrachters ermöglichen. Zwischen verdichtetem Material entstehen Zwischenräume, aus denen sich Korrelationen entwickeln von Sichtbarem und Nicht-Sichtbarem. Hohlräume vermindern die Materialität des Kunstwerks, erweitern aber dessen räumliche Ausdehnung. Die Konturen der Skulpturen weisen eine stark extensionale Wirkung auf, die haptische Textur der Oberflächen hingegen lädt den Blick zum Lesen ein. Die Schattenwürfe der Binnenformen, der rißartigen Vertiefungen und haptischen Druckformen, sowie die heterogene Struktur glatter und rauher Flächen und die abwechslungsreiche Patina der Oberfläche treten in ein spannungsvolles Verhältnis mit der räumlichen Kontur.
Immanuel Kraus setzte sich erstmals im Jahr 2002 mit dem Bronzeguß auseinander. Erste Arbeiten entstanden, eher als Nebensache seiner ursprünglichen Passion – der Malerei. Doch die bildhauerische Tätigkeit nahm zunehmend einen größeren Teil in seinem künstlerischen Schaffen ein. Anfang der 2000er Jahre wurde er als Holzbildhauer von Klaus Langmann beeinflußt, in seiner metallbildhauerischen Tätigkeit wurde er im Jahre 2006 angeregt durch Axel-Alexander Ziese, Professor der Kunstgeschichte, Künstler und Herausgeber der mittlerweile online erscheinenden Zeitschrift „Kunst aktuell“. Im Jahr 2008 gewinnt Immanuel Kraus mit seinen Bronzeskulpturen die Goldmedaille des 11. Offenen Kunstpreises der mitteldeutschen Jean-Gebser- Akademie für bildende Künste. Im Jahr darauf folgt die Silbermedaille.
Die malerische Tätigkeit von Immanuel Kraus begann Ende der 90er Jahre. Seine energetisch-dynamisch wirkenden Ölbilder entstehen „au premier coup“. Der Arbeitsprozeß vollzieht sich direkt innerhalb einer Sitzung. Das hat weniger etwas mit der Effizienz künstlerischen Schaffens zu tun, als vielmehr mit dem künstlerischen Ziel, einen zeitlich umrahmten geistigen Zustand als Grundlage zur Formfindung eines Bildes zu wählen. In den intensiven Arbeitsprozeß geht eine kontinuierliche geistige Auseinandersetzung mit dem Bildthema voraus, die dann konzentriert und eruptiv auf der Leinwand zur Gestalt findet. Die Impasto-Technik unterstreicht den dynamischen Charakter der Bilder. Dabei werden die Farben pastos auf die Leinwand aufgetragen und vermischt. Die Farbe behält ihre materiellen Eigenschaften. Der energetische Duktus des Farbauftrags bleibt als informelles Diagramm auf der Leinwand. Es finden sich chaotische Felder, in denen der Pinsel durch die Farben wütet oder sie zart vermengt. Aus diesen kompositorischen Zentren können filigrane Farbfelder- und striche ihren Lauf über die Bildfläche nehmen. Strukturell sind die Ölbilder zumeist vertikal orientiert. Die Aufwärtsbewegung, das Streben nach Höherem scheint die Kunst von Immanuel Kraus zu durchdringen. Nicht nur in den Skulpturen, auch in den Bildern zeigt sich das spannungsvolle Verhältnis zwischen dem Eigenwert des Materials, der Formgenerierung und deren gleichzeitiger Auflösung. In den informellen Abstraktionen werden Versatzstücke des Figürlichen sichtbar, die hinter die autonome Materialität der Farbe zurücktreten. Immanuel Kraus setzt den Ausdruckswert der Farbe subjektiv und situationsabhängig. Farbe scheint für ihn in ihrer Materialität und ihren optischen Eigenschaften primär als Mittel um die Energie des Momentes einzufangen. Die Leinwand wird somit zum Transformator dieser Energien, der diese an den Betrachter weitergeben kann.
Die Triebfeder, die solche Energien freisetzt und die geistige Vorarbeit zu den Bildern antreibt, scheint sich in dem Bestreben nach Freiheit zu finden. Die stete menschliche Sehnsucht nach gänzlicher Freiheit arbeitet sich an den Grenzen zwischen Körper und Geist entlang, versucht sich Platz zu schaffen zwischen Individuum und Gesellschaft.
Bildnerisch angewandt, findet sich dieses Spannungsfeld zwischen assoziativer Form und autonomer Materialität, das erst in der Vorstellungskraft des Betrachters, auch hinsichtlich der Unauslotbarkeit eines Kunstwerkes zur vollen, freien Entfaltung kommen kann.
Robert Sorg